Sonntag, 23. Juni 2019

Schierlingsbecher

Ich trinke einen ersten Schluck vom Becher,
der in schwarzen Samt gehüllt die Tage meines Lebens trägt.
Die Hände halten fest den kalten roten
Trank der mich vergessen lässt, welch‘ Stunde mir das Leben schlägt.

Es rinnt in meiner rauen Kehle dieser
Strom der Zeiten still und leise abwärts in den dunklen Schlund,
wo Licht verliert und Warm gewinnt, zersetzt,
verletzt, gesetzt zum zweiten Schluck den heil‘gen Becher an den Mund.

Ein paar der Tropfen fliehen fahlen Lippen,
stürzen etliche Momente brennend längs dem bleichen Kinn.
Gleich meiner Tränen wische ich sie weg,
sie kosten nichts, doch Zahl ich hohen Preis, wie Laubschnitt fall‘n sie hin.

Geschenk des Lebens, Zeit ihr Name, rot
die Farbe, flüssig Heiligtum dem Becher anbeginne eigen,
mir gegeben alles auszukosten,
gierig schwindet zwischen Zähnen schlingend dieses Becherneigen

dritten Schluckes frischer Lebenssaft.
Mit einem Zug der Kelch er leert, der Körper nährt, doch Dolchstoß fährt
ins junge Herz und in die Seele nieder,
bricht ein Stück und nimmt die Kraft, mit viertem Trunk nun fast geleert.

Vermisst du mich, wenn ich gegangen bin?
Und fehlst du mir, wenn ich des Bechers Boden endlich glänzen sähe?
Oder ist die Ruhe endlos, wenn
Gefühle, die ich hatte, ihrer Herkunft ungewiss, verschmähe?

Zweifel trinkt den letzten Schluck in Tränen,
leg den Becher ab mit kalter Hand und lächle müd und fahl.
Das Herz verstummt, bekannte Kund, der Tod
zieht endlich einen Schnitt und nimmt die Zeit, die ich ihm damals stahl.