Sonntag, 13. Mai 2012

Engelsflügel

Das kleine Mädchen schaut mich fahl
aus leeren Augenhöhlen an.
In stummer, schmerzerfüllter Qual
erhofft sie, dass sie sehen kann.

Ich streichle ihre kleine Hand,
mir scheint ganz sachte würden zucken,
wie von Feuern schwarz gebrannt,
die abgetrennten Fingerkuppen.

Ihre blutend Hände tasten
nach den meinen, die sie wiegen
und in denen nun mehr rasten,
glitzernd ihre Augen liegen.

Weiches weinerliches Wimmern
wispert, mehr vermag sie nicht,
weiße Zähne rötlich schimmern
im diffusen Neonlicht.

Worte quellen unverstanden,
wie das Blut von Lippen rinnt,
Laute, die die Freiheit fanden,
nicht wie sie gebunden sind.

Hinter milchgezähnten Trümmern
eines Kiefers, der zerbrach,
deren Schmerzen sie nicht kümmern,
in der ganzen dunklen Schmach,

das letzte Stück der Zunge steckt,
der Rest, das sei gesagt mein Kind,
hat engelsflügelgleich geschmeckt,
war Knospenduft in frischem Wind.

Endlichkeit ist allen Dingen
schon bestimmt vom Anbeginn,
geht das Leben durch die Klingen
nur verfrüht und schmerzhaft hin.

© M. Reinhart 2012